Scheitern: Der heiße Scheiterhaufen der Selbstoptimierung – Oder warum du nicht noch zehnmal gegen dieselbe Wand rennen musst, um als erfolgreich zu gelten
Scheitern wird oft glorifiziert – aber nicht jeder kann sich einen Neuanfang leisten. Eine kritische Analyse von Selbstoptimierung, Growth Mindset und toxischer Positivität.
Scheitern – das neue Erfolgsmodell?
Alle reden übers Scheitern, als wäre es ein hipper Selbstfindungsworkshop mit Latte Macchiato.
„Fail forward!“, sagen die einen. „Growth Mindset!“, die anderen.
Aber mal ehrlich: Wenn du gerade gescheitert bist – so richtig mit Bauchlandung und fliegendem Einhornhelm – dann willst du erstmal keinen Motivationsspruch.
Dann willst du eine Decke, Schokolade und jemanden, der sagt: „Scheiße, das war Mist.“
Und trotzdem: Scheitern ist nicht das Gegenteil von Erfolg. Es ist oft sein Vorgarten.
Nur leider ohne Gartenzaun.
Wer scheitert, hat schon was gelernt. Wirklich?
Willkommen im Jahrmarkt der Erkenntnisse, auf dem jeder Lifecoach einen Spruch wie ein Wurfgeschoss parat hat:
„Scheitern ist nur eine Station auf dem Weg zum Erfolg!“
„Wenn du gescheitert bist, bist du dem Ziel ein Stück näher!“
„Steve Jobs wurde auch gefeuert. Und guck, was aus dem wurde!“
Na bravo. Dann her mit der Kündigung – vielleicht werde ich ja auch Tech-Guru, Millionärin oder wenigstens bei TED eingeladen.
Aber ganz ehrlich: Nicht jeder, der scheitert, landet weich.
Und nicht jeder, der nochmal aufsteht, kann das auch nochmal bezahlen.
Die romantische Erzählung vom Scheitern
Sie klingt großartig:
Edison soll angeblich 999 Wege gefunden haben, wie man keine Glühbirne baut.
Und deshalb feiern wir seine Hartnäckigkeit.
Aber ganz im Ernst – wie viele von uns hätten nach dem 47. gescheiterten Versuch noch Strom in der Wohnung und Butter im Kühlschrank?
„Fail better“ ist schön gesagt – aber es hilft wenig, wenn du nach dem Scheitern erst mal ALG II beantragen musst oder die Miete offen ist.
Der Mythos vom „heilsamen Scheitern“ ist häufig ein Luxus – und der passt besser zu Rednerbühnen und LinkedIn-Postings als zum echten Leben.
Muss ich eigentlich selbst scheitern?
Oder reicht es, wenn andere das für mich erledigt haben?
Gute Frage.
Denn ja, man kann auch von anderen lernen.
Die Idee, dass man alles selbst gegen die Wand fahren muss, um daraus zu lernen, ist nicht noble Reife, sondern oft schlicht Verschwendung – von Zeit, Geld, Ressourcen und Nerven.
Warum immer das Rad neu erfinden, wenn jemand anders schon mit quietschenden Reifen in den Graben gefahren ist?
Die bessere Frage wäre:
Wie kann ich aus dem Scheitern anderer lernen – und daraus etwas Eigenes, Besseres bauen?
Das nennt man übrigens nicht Trittbrettfahren, sondern Intelligenz.
Was ist eigentlich „Scheitern“?
Ein Begriff, der gerne inflationär verwendet wird.
„Ich bin gescheitert“ – klingt dramatisch.
Aber was genau ist gemeint?
- Ziel nicht erreicht?
- Job verloren?
- Beziehung kaputt?
- Erwartungen anderer nicht erfüllt?
Interessanterweise kommt das Wort „scheitern“ tatsächlich vom Schiffbruch.
Und ja: Wer einmal gescheitert ist, weiß, wie nass und kalt so ein innerer Ozean sein kann.
Aber:
Nicht jeder Schiffbruch führt an eine neue Küste.
Manchmal führt er nur in die Tiefsee.
Oder zurück in die Werft.
Growth Mindset vs. toxische Positivität
„Einfach weiter machen!“ ist kein Allheilmittel
Der Begriff „Growth Mindset“ – also die Idee, dass man aus Fehlern wachsen kann – hat in vielen Köpfen inzwischen fast kultische Dimensionen angenommen.
Aber Achtung:
Zwischen „ich lerne aus Rückschlägen“ und „ich tue so, als wäre jeder Rückschlag ein Geschenk“ liegen Welten.
Hier kommt toxische Positivität ins Spiel:
Diese unangenehme Haltung, die Scheitern gar nicht anerkennt, sondern sofort in einen rosaroten Optimismus umdeutet:
„Sieh’s als Chance!“
„Alles hat einen Sinn!“
„Wenn es nicht klappt, dann war es halt nicht dein Weg!“
Schön und gut. Aber manchmal braucht es eben auch die Einsicht, dass man sich einfach verrannt hat.
Und dass es in Ordnung ist, aufzuhören, statt sich mit Affirmationen selbst in den Burnout zu loben.
Wann ist Scheitern sinnvoll – und wann einfach nur… scheiße?
Scheitern kann lehrreich sein – wenn wir uns die Zeit nehmen zu fragen:
- War das Ziel überhaupt realistisch?
- Habe ich auf mich selbst gehört – oder auf andere?
- Was genau ist gescheitert – ich als Person, oder nur mein Plan?
Reflexion ist der entscheidende Schritt.
Nur dann wird aus einem Rückschlag eine Entwicklung.
Sonst ist es einfach nur:
Schmerz. Frust. Wiederholung.
Wie ziehe ich aus dem Scheitern echten Nutzen?
Fünf unbequeme, aber hilfreiche Schritte
- Erkenne an, dass du gescheitert bist. Ohne Schönreden, ohne Schuldverschiebung.
- Spüre nach, was du dabei verloren hast. Zeit, Geld, Vertrauen, Selbstwert – alles darf sein.
- Analysiere das Ziel. War es wirklich deins? Oder ein Idealbild von außen?
- Frage dich, was du mitnehmen kannst – und was du loslassen solltest.
- Definiere ein neues Ziel. Eins, das nicht durch Trotz oder Trotzreaktion entsteht, sondern aus Klarheit.
Denn Erfolg ist nicht das Gegenteil von Scheitern.
Erfolg ist oft das, was nach dem klugen Aufhören kommt.
Fazit: Scheitern darf weh tun – aber es muss kein Lebensmotto werden
Nicht jeder, der scheitert, ist automatisch ein besserer Mensch.
Und nicht jeder, der nie scheitert, ist ein Glückskind.
Aber wenn wir aufhören, Scheitern entweder zu romantisieren oder zu verteufeln, gewinnen wir eine wichtige Fähigkeit zurück:
Die Freiheit, neu zu denken.
Nicht jeder muss Lifecoach werden, der mal einen Job verloren hat.
Und nicht jedes gescheiterte Projekt ist der erste Akt einer Hollywood-Erfolgsgeschichte.
Manchmal ist Scheitern einfach nur:
Der Hinweis, dass du auf dem falschen Dampfer warst.
Und das ist okay.
PS: Gescheitert? Gestrickt. Gefahren. Gelebt.
Weißt du was? Ich bin auch schon gescheitert.
Zumindest laut Definition.
Vom Maschenproben und Lebensentwürfen
Stricken mein Lieblingshobby seit meinem 6. Lebenjahr, gelernt von meiner Oma, meiner Urgroßmutter, meiner Mutter hat mich schon oft zum sogenannten Scheitern gebracht.
Immer wieder passiert es mir:
Euphorie, Musterwahl, Wollfreude. Und dann… Chaos.
Maschen zu eng, zu locker, Muster nicht zu erkennen. Also: Auftrennen. Neu denken. Neues Modell.
Oft war gar nicht ich das Problem – die Wolle war ungeeignet.
Und so ist das doch auch im Leben:
Nicht jede Idee passt zu jedem Menschen. Nicht jedes Ziel muss bis zum Letzten durchgezogen werden.
Scheitern bedeutet manchmal einfach: falsches Material, falsche Zeit, falscher Weg.
Das Autofahren mein Scheiterhaufen
Vor 40 Jahren hatte ich schlichtweg keine Chance: zu jung, zu nervös, zu viele Hindernisse zu viele Menschen die rein redeten….. Die Fahrlehrer machten es auch nicht besser – und irgendwann war klar: Das wird nix mit uns beiden, der Kupplung und mir.
Ich ärgerte mich. Jahrzehntelang.
Doch irgendwann merkte ich: Es war nie ein echtes Scheitern. Es hatte gute Gründe. Und ich habe einfach einen anderen Weg gefunden und ein süßes Auto mit Automatik. Wir passen zusammen.
Heute fahre ich ganz entspannt meine Kurzstrecken, lasse die Schnellstraße den Schnelleren – und genieße mein Leben trotzdem. Oder gerade deswegen.
Ich sitze nicht strumpfstrickend auf dem Sofa und warte auf ein besseres Leben. Überhaupt nicht! Ich habe mein „Scheitern“ zum Thema Fahren aber akzeptiert und finde andere Wege der Fortbewegung.
Ich laufe viel, bewege mich, schreibe mehrere Blogs, denke weit, auch wenn ich nicht weit fahre.
Und doch:
Ich stricke weiter. Ich laufe weiter. Ich schreibe weiter und ich fahre nah….
Weil das, was bleibt, nicht das Gescheiterte ist – sondern die Erkenntnis und mit den Jahren etwas Weisheit.
Ah und noch was zu Edison und seinem Scheitern am Ende: von Edison bis Steve Jobs – die Glühbirnen-Mär
Die Lieblingslegende aller Motivationsgurus: Thomas Edison, der angeblich tausend Wege gefunden hat, wie eine Glühbirne nicht funktioniert. Am Ende hat er dann einfach weitergemacht, bis das Ding endlich leuchtete s.o.. Bravo.
Aber: Edison war kein armer Schlucker. Er hatte ein Labor. Geld. Zeit. Und: Mitarbeitende, die die Fehlschläge für ihn durchtesten durften.
Wer sich das heute leisten kann, darf gern vom „Scheitern als Geschenk“ reden. Alle anderen sind eher auf Effizienz bedacht – und auf die Erfahrungen anderer.
Es geht auch anders und es gibt immer einen WEG
Manchmal schmeißt uns der Tag einfach so eine „Heute-gescheitert“-Karte zu – so wie mir heute! Daraus wurde der Beitrag.
Der beste Weg: lachen drüber und weiter spielen!
Denn mal ehrlich: Wer nie scheitert, hat vermutlich nie was Neues ausprobiert. Und das wäre ja auch irgendwie langweilig. Also, schulterzuckend das Scheitern akzeptieren, Krönchen richten und weitermachen – mit ’nem Kaffee in der Hand. Denn das Leben ist zu kurz für Dauerfrust und zu lang für Perfektion!